„Sprich die Menschen an.“

Haben sie gesagt.

„Sag was du fühlst“

Haben sie gesagt.

„Sei mutig.“

Haben sie gesagt. 

Nun stehe ich hier. Auf einem Festival voller Menschen, voller bunter Haare und voller Statements und bin alleine. So alleine. Um mich herum sind so viele Worte, laute Worte, die besser leise wären, gerade Worte, die besser krumm wären, wichtige Worte, die besser unwichtig wären. Sie alle reden und reden und lesen und lesen und doch haben sie nicht zu sagen. Nichts was für mich von Bedeutung wäre. Denn ich sehe sie alle miteinander sprechen, sehe sie alle lachen. Nur ich spreche mit niemanden. Ich habe nichts zum Lachen.

Ich verstehe sie nicht. Ich lehne sie ab. Ich verabscheue sie. Diese Menschen. Sie sind naiv. Sie glauben alles zu wissen und doch verstehen sie mich nicht. Das werden sie nie. Mit verschränkten Armen stehe ich am Rand des Festivals. Prosanova. Was ist das überhaupt für ein unaussprechlicher Name? Wer hat sich das ausgedacht? Bestimmt einer von diesen privilegierten Studenten. Ich hatte noch nie ein Privileg. Kein einziges.

Sie meiden mich, weil ich immer eine Waffe bei mir trage, aber werden selber dann verletzt, sie meiden mich, weil ich genau weiß wo der Larynx liegt, aber verschlucken sich an ihrer eigenen Spucke, sie meiden mich, weil ich die Serienkiller nach der Anzahl ihrer Opfer aufzählen kann, aber schreiben Jeffrey Dahmer Briefe.

Mein Blick schweift über die Menschen. Wie viele Frauen habe ich auf der Party angesprochen? Fünf? Zehn? Immer die gleichen Ausreden. Kein Interesse, sie hätten einen Freund oder wären lesbisch. Sie lehnen mich nur ab, weil ich nicht so laut bin wie die anderen. Weil ich ehrlich bin und nicht nur bequeme Lügen verbreite. Aber ich wollte sie alle sowieso nicht. Keine von denen konnte mich je begeistern. Sie sind alle langweilig, einheitlich.

Eine Menschenmenge baut sich vor mir auf. Sie setzen sich auf die Stühle. Schon wieder so eine Lesung von einem Autor, der doch eigentlich nichts über wahren Schmerz weiß. Ich verdrehe die Augen. Klar, die Menschen hier sind alle fröhlich, sie haben alle andere Menschen um sich herum. Natürlich schauen sie nicht zu mir, ich werde immer übersehen. Meine Worte immer überhört.

Ich will mich umdrehen, das Gelände verlassen, da betritt sie die Bühne. Drei Sekunden und ich bin in ihrem Bann gefangen. Ihre Beine, so lang und grazil, ihre Haare sehen weich und glänzend aus, ihr Mund ist so rot und voll und ihre Schultern wirken so schmal und zierlich. Ich beobachte, wie ihr Hals sich bewegt, wenn sie spricht, wie die Spucke ihren Hals hinuntergleitet, wenn sie schluckt. Die vielen Muskeln die zucken und vibrieren. Ihr Kiefer, der auf und ab tanzt.

Und plötzlich fängt sie an zu lesen. Und sie liest, von Einsamkeit, von Schmerz und von Hoffnung und ich habe nie in meinem Leben wahrere Worte gehört. Sie ist fantastisch, ehrlich und trifft mich genau in meinem blutigsten Punkt. Ich sehe ihr zu, wie ihre Finger über ihren weichen Hals streichen, wie sie ihren Kehlkopf umspielen, genau da wo die Stimmenbänder liegen. Diese Stimme, so klar, so stark, ich will vor ihr knien und ihr zuhören, Tag um Tag, Stunde um Stunde, Minute um Minute, Sekunde um Sekunde.

Manchmal streicht sie ihre schweren Haare zurück und offenbart ihre Halswirbel. Ich komme ihr näher, umkreise vorsichtig die Bühne. Von hinten kann ich es sehen, die Knochen, die leicht hervorstehen, ich kann sie beinahe zählen. Plötzlich hört sie auf zu lesen. Die Menschen applaudieren. Als hätte irgendjemand ihre Worte verstanden. Nur ich konnte verstehen, konnte fühlen, was sie las, denn sie hat es für mich gelesen. Nur für mich.

Ich beobachte, wie sie von der Bühne steigt, wie sie bejubelt wird. Menschen kommen auf sie zu, wollen sie beglückwünschen, aber letztendlich weiß doch keiner wirklich, was sie gerade erzählt hat. Nur ich weiß das. Weitere Autorinnen kommen auf die Bühne, eine belangloser als die andere, aber sie, sie klatscht bei ihnen allen, als wäre sie sich ihrer eigenen Überlegenheit nicht bewusst.

Endlich ist diese Lesung vorbei.

„Sprich die Menschen an.“

Haben sie gesagt.

Ich stehe neben ihr, atme ihren Duft ein. Sie riecht nach einer frisch geöffneten Fliegenfalle und den kaputten Resten eines Ballons. Ich öffne den Mund, habe das Gefühl, meine Worte könnten niemals ausreichen, um ihrer gerecht zu werden. Aber sie lächelt und ihre Worte für mich, sind wie Nadel und Faden für meine Seele.

Doch dann wird sie von den Anderen weggezogen. Zu einer Party. Ich glaube nicht, dass dieser Mensch Partys mag. Aber ich bleibe stehen, unfähig, etwas zu tun und sehe sie davonlaufen. Ich kann es nicht fassen. Ich darf sie nicht verlieren. Aber in dieser Menge komme ich niemals an sie ran. Also folge ich ihr. Bleibe bei ihr. Immer bei ihr. In ihrer Nähe.

Sie tut so, als würde ihr diese Party Spaß machen. Ich glaube ihr das nicht. Dieser Mensch ist nicht für Partys gemacht. Er ist für mich gemacht. Wir beide, gegen den Rest der Welt. Wir beide, für immer gegen alle Anderen. Wir beide.

Sie geht weg. Zieht sich zurück, in eines dieser leeren Klassenräume. Sie setzt sich auf den Tisch. Der braune Holztisch, der schon ganz zerkratzt ist. Blaue Delfine lachen im Hintergrund.

„Sag was du fühlst.“

Haben sie gesagt.

Aber sie lächelt nur, bedankt sich nochmal. Dann schaut sie mich an. Sie will das ich den ersten Schritt mache. Also sprudelt es aus mir heraus, all meine Gefühle, meine Verehrung, für sie, für ihre Worte, für ihre Stimme. Ich nehme ihre Hände. Aber sie entreißt sie mir. Sie will gehen.

Ich kann es nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass diese Stimme nun geht, dass diese Worte sich meiner verwehren. Das ist nicht richtig. Das darf nicht sein. Ich will ihre Stimme bei mir behalten. Ich will ihre Worte bei mir behalten. Ich will sie bei mir behalten.

„Sei Mutig“

Haben sie gesagt.

Also greife ich ihr Handgelenk. Ihre Stimme, ihre Worte, ich kann sie nicht gehen lassen. Sie ist so leicht und mein Messer so scharf. Wie schnell dauert es, einen Hals aufzuschneiden? Meine Klinge durch die zarte Haut zu drücken? Wenige Sekunden. Aber ihre Stimme, sie verstummt. Was habe ich getan?

Ich schneide tiefer, lege Haut zur Seite, finde Muskeln. Finde schimmernd rote Muskeln. Mein Messer bohrt sich tiefer, Blut läuft über glatten Boden, bildet Pfützen und Rinnsale. Ich finde ihren Ringknorpel, ob ich ihn entnehmen kann? Mit etwas Kraft halte ich ihn in der Hand. Er ist voller Blut. Ich lecke es ab. Die bläuliche Farbe fasziniert mich. Ich stecke ihn in meine Tasche.

Aber eigentlich will ich etwas ganz anderes. Ich schneide tiefer, wische das Blut immer wieder weg, schneide Hautlappen ab, durchtrenne Sehnen. Dann finde ich sie. Die Stimmbänder.

Sie sind grau, bei ihr hätte ich gedacht, dass sie weiß sind, so weiß und rein wie ihre Worte. Ich ziehe sie heraus, es knackt und schmatzt ein wenig, dann halte ich sie in der Hand. Für einen Moment betrachte ich sie im glänzenden Licht des Mondlichtes, welches durch das Fenster hereinscheint. Hier ist ihre Stimme versteckt. Hier kommen ihre Worte her.

Schließlich stecke ich sie mir in den Mund. Ich sauge sie ein, wie Mamas Spaghetti, aber sie schmecken besser. So viel besser. Sie sind das Beste, was ich je gegessen habe. Nun wird ihre Stimme für immer mir gehören, für immer ein Teil von mir sein. Ihre Worte gehören für immer mir.